Mittwoch, 30.08.2023

Der Kopf wird nicht mitoperiert

Jeder Mensch, der aufmerksam in sich hineinhorcht, merkt, dass es viele unterschiedliche Anlässe gibt zu essen. Der wichtigste darunter ist sicherlich das Hungergefühl. Aber wenn man versucht, diesen Zustand zu beschreiben, merkt man, dass das alles andere als einfach ist. Wo sitzt dieses Gefühl? Ist es nur im Bauch? Kommt es vom leeren Magen? Was ist mit dem Blutzuckerspiegel, der es bei körperlichen Anstrengungen erforderlich macht, Kohlenhydrate zu sich zu nehmen, damit genügend Energie da ist. Welche Bedeutung hat der Kopf, wenn er appetitliche Nahrung, die der Mensch gerne isst, sieht oder sich auch nur vorstellt.

Wenn man die Forderung, die oftmals an die Medizin gerichtet wird, dass man nämlich den Menschen als Ganzen, mit Körper, Hirn und Gefühlen, betrachten müsse, ernst nimmt, dann ist das Hungergefühl und die Nahrungsaufnahme natürlich ein Prozess, der den gesamten Organismus und auch die Psyche betrifft. Au diesem ganzheitlichen Zusammenhang lassen sich bestimmte Aspekte herauspicken und gesondert betrachten und hier sei ein Beispiel angeführt, das deutlich machen soll, wie Komplex das Geschehen ist.

Der russische Wissenschaftler Pawlow hat im Jahr 1905 an Hunden ein Experiment durchgeführt, in dem er in einer nach unserer heutigen Vorstellung recht groben, aber doch eindrucksvollen Versuchsanordnung nachgewiesen hat, dass die Psyche eine Rolle für Nahrungsaufnahme und Verdauung spielt. Er hat Hunde so operiert, dass er sehen konnte, ob ihr Magen Verdauungssekret und Salzsäure bildete oder nicht. Dann hat er ihnen in der üblichen Weise ihr Futter gegeben und dabei immer eine Glocke läuten lassen. Nach einer Weile konnte er zeigen, dass die Hunde auch dann eine vermehrte Sekretion von Verdauungssäften zeigten, wenn nur die Glocke ertönte. Sie hatten gelernt, dass ein Zusammenhang zwischen der Glocke und der Fütterung besteht, was eigentlich als ein Experiment zur Lerntheorie gilt, für das Pawlow sogar den Nobelpreis erhalten hat. Das Ergebnis des Versuchs zeigt uns aber auch, dass die Verdauungsfunktion an die Reize, die das Gehirn aufnimmt, in komplizierter Weise gebunden ist. So kann bei uns der Anblick eines leckeren Kuchens hinter einer Schaufensterscheibe, der Duft einer Grillpartie, von der man gar nicht weiß, in welchem Garten sie stattfindet, und sogar die Erwähnung eines besonders schmackhaften Gerichts in einem Gespräch Appetit und Hunger auslösen.

Wenn man sich nun wegen der Adipositas einer Operation unterzieht, so ist der Eingriff auf Magen und Darm beschränkt. Dennoch gehen von beiden Organen Impulse aus, die in Nervenreizen oder Hormonbotschaften an das Gehirn bestehen. Nach Auskunft vieler operierter Patienten können dabei unterschiedliche Gefühle auftreten. Meist beschreiben die Patienten, dass insbesonders in den ersten postoperativen Monaten gar kein Hungergefühl bestehe und dass man seine Mahlzeiten nach der Uhr einnehme. Das hat mit der Verkleinerung des Magens aber sicherlich auch mit Botschaften von den Bauchorganen an das Gehirn zu tun. So sind die neuartigen Abnehmmittel, die in den Medien in den letzten Wochen so präsent sind, eigentlich eine Nachahmung der Botenstoffe, die der Dünndarm nach einer Bypass-Operation an das Gehirn sendet und mit denen er signalisiert, dass er keine Nahrung benötigt. Die körpereigenen Substanzen sind dabei aber so kurzlebig, dass die Wirkung eines Medikaments, das aus der körpereigenen Substanz bestünde, nach wenigen Minuten vorbei wäre.

Doch zurück zum operierten Bauch. Die erste Zeit nach einer Operation, die wir auch mal gern die „Flitterwochen“ nach der Adipositaschirurgie nennen, funktioniert bei fast allen Patienten wunderbar. Es ist etwas so neues, fast abenteuerliches, was da in einem passiert. Die operationsbedingten Schmerzen sind bald überwunden und dann kann man zunächst einmal staunen, was mit einem passiert und wie die verhasste Waage wird zum guten Freund werden kann.

Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Alles Neue verliert irgendwann auch seinen Glanz und der Alltag guckt um die Ecke – und fragt womöglich, ob man ihn nicht etwas versüßen kann. Hat doch früher immer so gut geklappt. Und da kommt dann der Riech-, Seh- und Fantasiehunger wieder ins Spiel. Patienten sprechen dann öfter von „Kopfhunger“, den sie verspüren, während der Bauch sie völlig in Frieden lässt. Die Frage zu klären, ob das, was früher immer so gut geschmeckt hat, immer noch lecker ist, kann harmlos sein, aber kann auch innerlich Barrieren einreißen, die man lieber bestehen lassen sollte.

Der Kopf muss mitspielen und mit der Haltung „ich kann ja ruhig essen, was ich will, es geht ja ohnehin kaum was rein kann man leicht eine Entwicklung einleiten, die die erreichten Veränderungen zumindest zum Teil wieder zunichtemacht.

Den Kopf können wir nicht mit operieren, aber wir wissen, dass die Operation sich individuell unterschiedlich auch auf das Denken und Empfinden auswirkt. Weil das aber oft unvollständig ist, muss der Patient auch bewusst versuchen, seine Gedanken und sein Fühlen über das Essen mit auf die Reise zu nehmen.

Dass da manchmal etwas nicht stimmt, schließe ich daraus, dass Patientinnen und Patienten bei den Kontrolluntersuchungen immer mal wieder berichten, dass sie zum Frühstück wieder ein ganzes Brötchen „schaffen“.  Da spielt ihnen ihr Kopf einen Streich und diese Aussage zeigt auch, wie tief Denkgewohnheiten in uns verwurzelt sind: Wer krank ist, hat keinen Appetit oder kann nicht richtig essen und wer, wenn nicht einer, der operiert werden musste, ist denn wohl krank? Dann ist es also ein gutes Zeichen, dass er wieder essen kann und sogar ein ganzes Brötchen schafft, wenn es mit ihm wieder aufwärts geht. Die Denk- und Empfindensweise, die uns in dieser Hinsicht einprogrammiert ist, führt aufs Glatteis, auf die ernährungsmäßig schiefe Bahn oder sonst wohin, wo wir nicht hingeraten sollen und wollen. Deswegen ist es wichtig, dass der nicht operierte Kopf mit an dem Problem arbeitet. Ein gutes Konzept besteht darin, sich bewusst zu machen, wie toll es ist, dass der Organismus mit so wenig Nahrung auskommen kann und dabei leistungsfähig bleibt. Der Verstand beeinflusst den Körper und hängt dennoch auch von ihm ab. Die Kopfbehandlung kommt nicht mit der Operation und sie kommt nicht von allein. Es hilft, wenn man sich solche Abhängigkeiten und die Untiefen, in die einen das eigene Empfinden führen kann, immer wieder klar macht, und zwar lebenslang.

Die Auseinandersetzung mit dem Körper über das Essen hat der Kopf vor der Operation immer wieder verloren. Nach der Operation ist er eine Zeit lang der automatische Sieger. In dieser Zeit muss man versuchen, von sich selbst zu lernen, versuchen, seine Portionsgrößen zu verinnerlichen, in sich hineinhören, wann die Mahlzeit ausreicht und wann einen nur der Appetit, aber nicht mehr das körperliche Bedürfnis weiteressen lässt. Je mehr man sich über diese Prozesse klar wird, desto besser kann man sich später davor schützen, dass man in alte Gewohnheiten verfällt.

„Der Starke ist am mächtigsten allein“ sagt das Sprichwort, aber gerade bei der Frage, wieviel Macht denn der Kopf hat, wird es schon schwierig. Deshalb ist es hilfreich, nicht allein zu bleiben, sondern sich zu verbünden und auch nach der Operation mit der Hilfe und im Rahmen einer Selbsthilfegruppe die Macht des Kopfes zu erhalten und womöglich auszubauen.