Das Datum 24.05.2021 sitzt Sina Seeburg als Tattoo im Nacken: An diesem Pfingstmontag misslingt der geübten Reiterin ein Sprung und sie stürzt von ihrem Pferd. „Das war gar nicht spektakulär“, sagt sie, und da sie damals nebenberuflich junge Pferde ausbildete, war es auch nicht ihr erster Sturz. „Meine Kappe war noch heile, aber ich war direkt weg.“ Danach lag sie neun Wochen lang im Koma. Zehn Monate braucht sie, um sich wieder zu erholen. Atmen, sprechen, essen, gehen lernen. Jetzt sitzt die 41-jährige Emsbürenerin im Untersuchungszimmer von Dr. Ralph Lehrke und bereitet sich auf eine OP vor, die ihr letztes Problem lösen soll: Das unablässige Zittern der rechten Hand, das sie seit 2021 begleitet.
„Frau Seeburg leidet an einem rubralem Tremor“, sagt Dr. Lehrke. „Das bedeutet, dass eine Schädigung im Mittelhirn an dem Zittern beteiligt ist, besonders dann, wenn sie etwas greifen oder festhalten will.“ Bei Sina Seeburg bewegt sich der rechte Arm, ohne dass sie das komplett kontrollieren kann. Schreiben, knöpfen, Schleifen binden: „Ich habe gar keine Schuhe mit Schnürsenkeln mehr“, sagt sie leichthin, „und ich esse dann eben mit links.“ Und dazu lacht sie sehr offen und trotzig jeden negativen Gedanken weg.
Und sie hat Grund zur Hoffnung: Ihre Ergotherapeutin in Spelle hat ihr geraten, sich von Experten für Stereotaxie behandeln zu lassen. Eine der wenigen Kliniken sei die St. Barbara-Klinik Hamm. Chefarzt Dr. Ralph Lehrke und Oberarzt Dr. Thomas Fortmann beherrschen die Tiefe Hirnstimulation, bei der sie sich in einem dreidimensionalen Koordinatensystem unterstützt durch bildgebende Verfahren wie CT und MRT im Gehirn des Patienten orientieren können (Stereo bedeutet räumlich, taxie steht für Anordnung, bzw. genaues Zielen).Über kleine Bohrlöcher werden Elektroden millimetergenau zu der Stelle im Gehirn vorgeschoben, wo die Tremorimpulse ausgelöst werden. Was beängstigend klingt, verbessert das Zittern zum Beispiel auch von Parkinsonpatienten erheblich.
„Wir wollen die Möglichkeit nutzen, Hirnareale über eine Strecke von 10.5mm beeinflussen“ urteilen Dr. Lehrke und Dr. Fortmann beim Betrachten der MRT-Bilder von Sina Seeburgs Mittelhirn. Sie werden eine neuartige und erst vor kurzem in Deutschland zugelassene 16-polige Elektrode verwenden, die segmentiert ist und die elektrische Impulse in verschiedene Richtungen abgeben kann. Wichtig wird der Beitrag der Anästhesie sein, denn Sina Seeburg erlebt die dreistündige OP teilweise wach mit. „Optimal ist es, wenn die Patientin selbstständig atmet, im ersten Teil ein wenig schläft und später soweit wach ist, dass sie Anweisungen verstehen und befolgen kann – den Arm heben, etwas greifen“, erläutert Dr. Fortmann. Denn so erkennt das Ärzteteam schon während des Eingriffs, ob eine Elektrode richtig platziert ist.
Nach dem Eingriff werden die elektrischen Impulse von Sina Seeburg selbst gesteuert. Sie bekommt dazu eine Fernbedienung, das Empfangsteil wird unter der Haut in der Nähe des Schlüsselbeins implantiert. Wichtig ist für sie die enge Begleitung durch ihre Familie: „Meine ganze Familie steht hinter mir!“ Insbesondere in der ersten Zeit nach dem Sturz hatte Klaus Hemme als ihr Ehemann viel zu tun: „Der Schock und der Papierkram – das war schon hart!“ Der Tiefen Hirnstimulation sehen beide positiv entgegen: „Es ist ja so, dass von Tag eins nach dem Sturz an es immer besser wurde – es ging stetig bergauf!“ Sogar geritten ist sie bereits wieder: „Aber das Pferd hat mir Dinge beigebracht, nicht umgekehrt….“
Die OP am Tag darauf erlebt Sina Seeburg nicht als belastend: „Ich habe nichts mitbekommen“, sagt sie hinterher – nicht vom Bohren der Löcher, die die Sonden in ihr Gehirn eingelassen haben, nicht vom Schnitt am Schlüsselbein, um das Steuergerät zu implantieren. In der Mitte der OP allerdings ist sie wach, hält einen Gegenstand in der rechten Hand, führt ihn gezielt hin und her. Dr. Lehrke und Dr. Fortmann können so sehr genau die Position der Elektrode bestimmen. Schon im Aufwachraum kann Sina Seeburg eine Tasse halten und zum Mund führen – ein überwältigendes Gefühl nach so langen Jahren des Zitterns. Ein Ziel jetzt: „Wieder dem Pferd etwas beibringen!“