Freitag, 04.03.2022

Ein kleiner "Wachrüttler" zum Welt-Adipositastag

Der 4. März ist der Welt-Adipositastag. Was ist das? Ein Feiertag, ein Gedenktag, ein Aufrütteltag, ein Nachdenktag oder ein Vorsatztag? Ich denke, vieles davon, nur kein Feiertag. Wer will, kann auch gedenken, zum Beispiel der Klassifizierung der Adipositas als Krankheit durch die Welt- Gesundheitsorganisation WHO, was darin zum Ausdruck kommt, dass die Ziffer E66 der internationalen Klassifikation der Erkrankungen die Adipositas betrifft.

 

Ich halte den Tag für einen von Nachdenklichkeit und Introspektion, „Eigenbetrachtung“ also. Ein großes Problem adipöser Menschen im Alltag ist die Stigmatisierung, die herabsetzende Behandlung durch Arbeitskolleg:innen, Vorgesetzte, Familienmitglieder und zum Teil sogar wildfremde Menschen. Das macht es wichtig, zu versuchen, die Welt der adipösen zu verstehen. Und – merkwürdig – sie ist unserer eigenen sogar nah!

Ein wichtige Grundlage der Adipositas, die man verstehen muss, sind die Erbanlagen. Die Amerikaner haben den treffenden Spruch „one second on the lips, ten years on the hips“. Nicht auf jeden trifft das zu. Wir stoßen auch immer wieder auf Menschen, die offenbar alles essen können, was ihnen in den Weg kommt und nicht zunehmen. Die Gründe liegen nicht in einem einzelnen Faktor, der etwa vorhanden sein kann oder fehlen kann und damit über das Lebensschicksal dick oder dünn entscheidet. In Wirklichkeit sind es über 300 vererbbare Einzelfaktoren, die mehr oder weniger zusammentreffen, um einem Individuum das Adipositasproblem zu bescheren. Diese sind unterschiedlich stark wirksam, aber der wichtigste von ihnen macht zwischen Menschen, die diesen Faktor haben und denen, die ihn nicht haben, nur 100 g Unterschied aus. Nur dann, wenn eine große Zahl dieser einzelnen Faktoren  zusammentreffen, kommt es tatsächlich leichter zur Adipositas als bei anderen Menschen. Dabei ist es noch nicht einmal klar, wie dieser Effekt dann zustande kommt. Ob es eine in den Erbanlagen verankerte Verhaltensform oder eine Stoffwechselvariante ist, kann man meist nicht sagen. 

Aus dem Gesagten wird aber deutlich, was unserem Alltagserleben entspricht: Schlanksein und krankhafte Adipositas sind nur mehr oder weniger die Endpunkte in einem großen Spektrum von Körperformen, die vom Normalgewicht über Übergewicht zu den verschiedenen Graden der Adipositas reichen. Da fragt man sich zu Recht, wer denn auf wen mit dem Finger zeigen darf und sich ihm überlegen fühlen darf.  Darf der Normalgewichtige über den erstgradig adipösen mit seinem Bauch oder mit ihren breiten Hüften spotten. Oder ist erst zweitgradige Adipositas ein zulässiges Objekt. Macht sich der Übergewichtige womöglich lächerlich, wenn er auf Schwerst-Adipöse herabsieht?

Besser hält man sich von all diesen herablassenden Haltungen fern. Gerade bei den Schlanken gibt es viele, die zu der immerhin ca. 25% der Erwachsenen umfassenden Gruppe der Raucher gehören. Ist deren Abhängigkeit vom Nikotin bedauernswerter im Vergleich zur fehlenden Kontrolle über das Essen, über die man spotten darf? Wie wäre es, wenn vor dem Fett- und Zuckergehalt aller Nahrungsmittel genauso drastisch gewarnt würde wie vor den Wirkungen des Tabakrauchs. Schrill, aber vorstellbar. Schwierig ist nur die Tatsache, dass keiner rauchen, aber jeder essen muss. Jeder, der das Problem einer Abhängigkeit kennt, weiß dass es leichter ist, sich ganz vom Stoff fernzuhalten als ein wenig zuzulassen. Geht aber beim Essen nicht.

Neben den Rauchern gibt es auch noch andere abhängige. Auch die häufigste Alltagsdroge, der Alkohol, wird von vielen Menschen konsumiert und die Grenze zur Abhängigkeit ist schwer zu erkennen. Folgt man den Überlegungen einiger Fachleute, dann ist die halbe Nation vom Alkohol abhängig. Ist aber in den Augen der Mitmenschen nicht weiter schlimm, und wenn es schlimm wird, wird jeder verstehen, dass der Kranke eine Behandlung braucht.

Nicht so beim Adipösen. Der ist nun mal selbst verantwortlich. Wenn man aber versucht, in sich hineinzuhören, dann wird jeder merken, dass er auch selbst negative Gewohnheiten hat, die er nicht gerne aufgibt, und wenn man es trotzdem versucht, wird plötzlich ihre Macht deutlich.

Lustigerweise fällt der Welt-Adipositastag in diesem Jahr fast zusammen mit dem Beginn der Fastenzeit. Da könnte doch fast jeder von uns versuchen, mal eine negative Ess- oder Genussmittelgewohnheit aufzugeben. Vorübergehend oder – schwerer – sogar für immer. Hier mal ein paar Anregungen:

0,1 L Weißwein hat ca. 110 kcal. Macht im Jahr ca. 40000 kcal oder 3kg Gewichtsverlust

1 Riegel Schokolade pro Tag bringt ungefähr den gleichen Effekt – oder zusammen schon 7 kg

0,3 L Bier hat 129 kcal, also ca. 20% mehr als der kleine Weißwein, damit auch fast 3,5 kg, falls es dabei bleibt.

Spannender wird es beim Fernsehen:

50 g Chips = 250 - 280 kcal - Da kann man dann schon mit 7 kg am Ende des Jahres rechnen.

Interessant auch die Kalkulation für Zucker: Jedes Stück Würfelzucker, das über das ganze Jahr eingespart wird, bringt ca 350 g. Da lohnt es sich, mal im Internet nachzuschauen, was wieviel von diesen weißen Klötzchen enthält – man staunt.

Nun werden viele denken „na ja, so schlimm ist es bei mir aber auch gar nicht“ und das mag ja auch stimmen.  Aber woher kommen die 3500 kcal Nahrungsaufnahme pro Tag, die ein deutscher Erwachsener im Durchschnitt zu sich nimmt. Da liegen wir, wie die Grafik zeigt, noch gar nicht ganz vorn, sondern nur im hinteren Führungsfeld, aber dennoch sind es 1000 kcal am Tag weniger als der Mensch tatsächlich braucht.

 

Da muss wohl auch bei vielen Menschen, die uns auf der Straße gar nicht auffallen und die wir auch nicht herablassend behandeln, die Gewohnheit es mit den Nahrungsmengen nicht so genau zu nehmen eine Rolle spielen.

Oder: Wenn man mal kritisch in sich hineinschaut und seine Gewohnheiten betrachtet die Erkenntnis, dass wir alle auch ein bisschen den Adipösen gleichen – zumindest im Kopf. Grund genug, ihnen mit dem Respekt zu begegnen, den jeder Mensch verdient.